Gedanken von Pfarrer Martin Kornfeld zur Jahreslosung 2024
Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe – 1. Kor. 16, 14
Vorsicht! Komme niemand auf die Idee, diese Mahnung nur auf das anzuwenden, das wir tun. Wir wissen doch, dass alle Taten der Liebe geboren werden aus dem Denken, dem Fühlen, aus dem Wahrnehmen und Anschauen. Und ebenso wissen wir, dass der Hass, die Kriege, auch die fürchterlichsten aller Waffen ausgebrütet werden und entstehen im Denken.
„Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe.“
Luther hat genau gewusst, dass alles Gute und Wahre, dass alles Üble und Gemeine den Anfang nehmen im Denken der Menschen. Und darum hat er – etwas ungelenk zwar – aber doch genau formuliert: „alle eure Dinge lasst in der Liebe geschehen.“ Darum Vorsicht! Überseht nicht, dass alles Tun, alles Handeln seinen Ursprung hat im Denken, im Planen, im Konstruieren.
„Alle eure Dinge, alles, was ihr tut, geschehe in Liebe.“
Meine erste Frage an dieses Motto für das Neue Jahr: Ist das überhaupt möglich?
„Alle eure Dinge, alles was ihr tut, geschehe in Liebe“
Geht das? Und gerade jetzt, gerade heute? Mitten in Kriegen und Zerstörungen? Die Bilder davon kriegen wir Tag für Tag in unsere Wohnzimmer und in unsere Seelen geliefert.
Geht das? Liebe unter Hassenden, die nichts mehr wünschen und wollen, als das Auslöschen des Feindes?
Alle eure Dinge, alles, was ihr tut, geschehe in Liebe.
Bevor wir diese flehende Mahnung mit der Bemerkung ‚das ist doch völlig unmöglich‘ beiseiteschieben, wollen wir genau hinschauen:
Wer sagt das – und wer hört das?
Paulus, von dem wir wissen, dass er einmal Saulus gewesen ist, ein unbarmherziger Christenverfolger und Christenmörder, Paulus hat einen Brief an eine christliche Gemeinde geschrieben, die er so ins Herz geschlossen hat, die er so liebt, wie andere ihr Kind lieben.
Das ist die Gemeinde in Korinth, der Stadt, die damals im Glanz ihres Wohlstands und ihrer Kultur einzigartig dasteht und in der zur selben Zeit Laster jeder Art und Abart gedeihen. Diese Christengemeinde in Korinth hat Paulus verlassen, um anderswohin die gute Nachricht zu bringen; die gute Nachricht davon, dass Gott in die Geschichte der Menschheit eingegriffen hat; die gute Nachricht von Jesus Christus, der als das sichtbare Zeichen der Liebe Gottes in unserer Zeit und Welt gelebt hat und noch darin wirkt – bis heute.
Nun beobachtet und begleitet Paulus ‚sein Kind‘ aus der Ferne. Am Schluss seines Briefes formuliert er Wünsche für die Gemeinde. Und in diesen Wünschen spüren wir, dass etwas fehlt in der Gemeinde der Christen. Es fehlt etwas, das sie so nötig hat wie das tägliche Brot. Brot brauchen sie damals – Brot brauchen wir heute – zum Überleben.
Ohne Brot – lauert der Tod. JA! Ohne Brot – nur Tod.
Wir müssen uns nicht weit umsehen, um das zu bestätigen: Ohne Brot lauert der Tod.
„Alle eure Dinge, alles, war ihr tut, geschehe in Liebe“
soll von Liebe bestimmt und durchtränkt sein. Fehlt es daran in dieser Vorzeige-Gemeinde?
„Alles geschehe in Liebe,“
Liebe kann doch keiner befehlen. Liebe kann man nur sehnlichst wünschen und wärmstens empfehlen. Liebe hat viele Namen. Liebe besteht aus vielen Facetten. Ich nenne einige – und jeder mag für sich diese Aufzählung ergänzen:
Liebe bedeutet Rücksicht, Dankbarkeit, Einsicht in die eigenen Abgründe; Liebe bedeutet Geduld – mit sich selber und mit anderen.
Liebe ist ein Schlüssel zur Versöhnung, zum Frieden.
Oft ist unterschieden worden zwischen niederer und höherer Liebe; zwischen selbstsüchtiger und reiner Liebe, zwischen körperlicher und geistiger Liebe. Fachleute haben dafür die Begriffe gewählt: eros als Ausdruck der niederen und agape als Bezeichnung der wertvolleren Liebe. Wollen wir, oder wollte etwa Paulus schon die körperliche, die begehrende, die egoistische Liebe ausschließen, wenn er bittet:
Alle eure Dinge, alles, was ihr tut, geschehe in Liebe?
Nein! Und noch einmal N E I N !
Die reinigende Kraft, das gleißende Licht des Evangeliums durchleuchtet unser Alltags- und unser Sonntagsleben; es deckt unsere hässlichen Abgründe und unsere Großartigkeiten auf. Wo das Evangelium in einem Menschenleben Einfluss gewinnt, wo Menschen das Evangelium ins Leben hineinlassen, da leuchtet es hinein in alle Bereiche. Sollten wir versuchen, bestimmte Bereiche vor dem Licht des Evangeliums zu verstecken, da spüren wir sehr bald den Riss, der durch unser Leben geht. Und Risse verursachen immer Schmerzen und Qualen. Kein Bereich bleibt außerhalb der Wirkung und des Einflusses des Evangeliums.
In den vergangenen Wochen lasen und hörten wir Statistiken und Berichte – im Rahmen des Weltfrauentages – über Gewalt an Frauen. Gewalt, der sie wehrlos ausgeliefert sind, Gewalt in Familien, Ehen, in allen Beziehungen, in denen wir einander sehr nahekommen. Wer Gewalt ausübt, der will Macht. Macht kennte keine Liebe. Macht will nur Unterwerfung des anderen, seine Zerstörung.
Ich will erinnern an Zeichen der Liebe in unseren Tagen. Mir sind einige Ereignisse im Gedächtnis, die Hoffnung ausstrahlen. Ereignisse, die Türen zur Versöhnung hin geöffnet haben.
Helmut Kohl und Francois Mitterand haben am 22. September 1984 auf den mit Blut getränkten Schlachtfeldern bei Verdun einander die Hände gereicht. So konnte eine jahrhundertelange Geschichte des Hasses zwischen unseren Völkern einmünden in eine Versöhnungsgeschichte. Der Beginn dieses Friedenweges ist mit den Namen Adenauer und de Gaulle verknüpft.
In Warschau steht am Ort des ehemaligen jüdischen Ghettos ein Denkmal. Es erinnert an die gnadenlose Ausrottung jüdischen Lebens durch die Deutsche Besatzung/Deutsche SS-Angehörige und Deutsche Soldaten. Am 7. Dezember 1970 fällt der Deutsche Kanzler Willi Brandt vor diesem Denkmal auf die Knie.
Beim Brandanschlag auf ein Wohnhaus in Solingen verlieren am 29. Mai 1993 fünf Angehörige der türkischen Familie Genc ihr Leben. Die Mutter dieser Familie hat ihre Hand zur Vergebung gereicht. Sie wurde zur Mahnerin für Versöhnung und Frieden.
Das sind Zeichen der Hoffnung. Sie lassen darauf hoffen, dass Menschen mitten im Hass und mitten in Kriegen zum Frieden rufen und zum Frieden helfen.
Hierhin gehört nun endlich das Erinnern an die Frauen und Männer, die in ihren Familien, in Krankenzimmern und an Sterbebetten als Hauptberufliche oder im Ehrenamt oft bis an die Grenzen ihrer Kräfte im Einsatz sind. Sie lindern Schmerzen, richten Verzagte auf; sie harren aus bei den Ungeduldigen und bei den Fordernden. Wenn von diesen Engeln die Rede ist, wird leicht übersehen, dass sie Ruhepausen brauchen, damit ihre Kräfte zum Helfen nicht erlahmen und schließlich versiegen.
In unserem Brief an die Christen in Korinth beschreibt der Apostel im 13. Kapitel, was die Liebe vermag, wozu sie fähig ist:
Die Liebe hat einen langen Atem,
sie nutzt den anderen nicht aus,
sie sucht nicht den eigenen Vorteil,
sie lässt sich nicht erbittern,
sie rechnet das Böse nicht an.
Macht euch die Mühe und lest in einer ruhigen Stunde dieses Kapitel 13 im Ganzen. Ich empfinde, Paulus beschreibt da die Liebe, die Christus zu uns gebracht, die Liebe, die ER uns erwiesen hat. Vielleicht wird in dieser Beschreibung der Liebe ein Fenster zu der Welt geöffnet, die Gott versprochen hat und die noch vor uns liegt.
Ich habe Zeichen der Liebe genannt. Ich will und muss diese Liste ergänzen.
Zur Liebe gehört die bittere Erfahrung des Versagens. Wir schaffen nicht, was wir wollten und was wir sollten. Wir haben versagt. Und erst nach diesem Eingeständnis können und dürfen wir einen neuen Anfang wagen. Jesus Christus, das Gesicht der Geduld Gottes mit uns Menschen, Jesus Christus hat im Scheitern einen – seinen – Weg der Liebe gewiesen: „Vater, vergib ihnen.“
Zeichen der Liebe: Zur Liebe gehört das Gebet: Hilf uns zum Lieben. Schenke neuen Mut und neue Kraft.
Zur Liebe gehört auch der Dank dafür, dass DU, Gott, nicht aufhörst, uns zu suchen. DU bist und DU bleibst doch Unser Vater, Vater der Welt, Vater Deiner Geschöpfe.
„Alle eure Dinge, alles, was ihr tut, geschehe in Liebe“.
So machen wir uns auf den Weg in das Neue Jahr. Wir sind umgeben und begleitet vom Versprechen Jesu, von einem Versprechen, das sowohl Ermutigung wie Ansporn zur Liebe bedeutet:
Glücklich, gesegnet sind die, die Frieden stiften, die den Frieden tun.
Gott selbst nennt sie „meine Töchter“, „meine Söhne“.
Amen